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Wege gehen

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Seit dem 2. Schultag war ich Schlüsselkind. Bis zum Ende der Mittelstufe trug ich einen Schlüssel an einem Band um meinen Hals. Die Tatsache, dass ich mir meine Stempelkarte nach wie vor gern umhänge, ist wohl eine Spätfolge.

Ich möchte meine Kindheit nicht verklären. Meine Mutter galt damals sicher als Rabenmutter und ich selbst habe mir oft gewünscht, dass ich nach der Schule nach Hause komme und sie erwartet mich mit einem Gulasch gewürzt mit Maggifix.

Ich hatte zwei Strategien, um damit umzugehen, dass ich häufig von der Schule in ein leeres Haus kam. Ich suchte mir Freundinnen, deren Mütter Hausfrauen waren und genoss das umsorgt sein oder ich genoss die Freiheit, allein daheim zu sein und kümmerte mich um mich selbst. In beiden Fällen wurde ich belohnt.

Belohnt mit dem Hormonrausch, den der menschliche Körper selbst macht, wenn man eine Aufgabe meistert. Belohnt mit Selbstbewusstsein, das man nur bekommt, wenn man Aufgaben selbstständig löst.

Schon früh wusste ich, dass ich es schaffe, Freunde zu finden und dass ich mich in fremde (Familien)strukturen einpassen kann. Auch mein Glaube, dass Menschen im Grunde gut und hilfsbereit sind, resultiert aus dieser Zeit. Wenn wildfremde Leute regelmäßig ein (gefräßiges) 7jähriges Mädchen durchfüttern, kann die menschliche Spezies nicht schlecht sein.

Wenn nötig, konnte ich aber auch selbst einkaufen, kochen, backen, eine verstopfte Toilette entstopfen und nachher das Bad reinigen. Die Qualität war sicherlich ausbaubar aber es war ein tolles Gefühl zu wissen, dass ich alleine klarkommen könnte. Es gab mir die Freiheit, Bindungen freiwillig einzugehen.

In den letzten Wochen habe ich viel an meine Grundschulzeit gedacht. Vor ein paar Tagen wurde mein Sohn eingeschult und es bleibt nicht aus, dass ich viel vergleiche, mich viel erinnere und den Sohn mit Geschichten von früher langweile.

Aus organisatorischen Gründen und auch weil der Weg eigentlich einfach und relativ kurz ist, gingen der Mann und ich davon aus, dass der Sohn in ein paar Wochen oder wenigen Monaten seinen Schulweg allein geht. Jedes Mal, wenn ich dieses Vorgehen außerhalb der Familie – egal ob bei Erziehern, Eltern, Freunden – angesprochen habe, blickte ich in entsetzte Augen.

Und obwohl ich nach wie vor ein wenig verunsichtert bin, merke ich auch, wie ich anfange, mich aufzuregen.

Aufzuregen darüber, dass wir unsere Kinder zwingen, mehrere Stunden am Tag ruhig auf einem Stuhl zu sitzen, dass wir von ihnen gute schulische Leistung, Disziplin, musikalische und/oder sportliche Leistung erwarten. Wir wollen, dass sie sozial kompetent sind, besser Streierein schlichten als wir selbst, wir erzählen ihnen davon, dass mit der Schulzeit der Ernst des Lebens beginnt, aber die persönliche Eigenständigkeit verweigern wir ihnen.

Als ich in der Grundschule war, hatten mein 8 Jahre älterer Bruder und ich ein langes Gespräch. Ich fand es ungerecht, dass er viel mehr durfte als ich. Er erklärte mir, dass er älter sei und dadurch mehr Freiheiten genießen würde. Gleichzeitig hätte er aber auch mehr Pflichten und Aufgaben. Das klang für mich damals sehr plausibel.

Dieses Prinzip wird leider immer mehr pervertiert. Während einerseits die Pflichten für unsere Kinder bestehen bleiben oder immer größer werden, nehmen wir ihnen andererseits ihre Freiheiten sang und klanglos weg.

Aus einer protektiven Angst und wahrscheinlich auch aus einer Kontrollsucht heraus, verweigern wir unseren Kindern, ihr inneres Belohnungsssystem zu nutzen. Sicherlich gibt es Kinder, die aus akademischen Leistungen, aus dem Geigespiel oder einem Fußballpokal genau diese Zufriedenheit ziehen können. Aber für das Gros der normalbegabten Kinder würde der Nachhauseweg ohne Netz und doppelten Boden einen viel größeren Dienst tun.


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